Hintergrund
Die COVID-19-Pandemie kann als multidimensionaler „Stresstest“ für die Solidarität zwischen den Generationen betrachtet werden. So löste sie in verschiedenen Ländern Kontroversen über die moralischen Beziehungen und Verantwortlichkeiten zwischen den Generationen aus. Während sich die einen auf den Begriff der Solidarität beriefen, um bevölkerungsweite restriktive Maßnahmen zum Schutz älterer Menschen zu rechtfertigen, erwarteten andere wiederum von den Alten, sich zu isolieren, um eine möglichst baldige Rückkehr in das normale gesellschaftliche Leben zu ermöglichen. Andernorts wechselten die politischen Reaktionen von einer anfänglichen Strategie der Herdenimmunität über eine Politik der Isolation und sozialen Distanzierung bis hin zu einer weitreichenden Aussetzung restriktiver Maßnahmen. Die damit einhergehenden öffentlichen Debatten berühren grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie der Legitimität moralischer und rechtlicher Ansprüche. Angesichts weiterer Herausforderungen, die den Zukunftshorizont der europäischen Gesellschaften verändern, wie des Kriegs in der Ukraine, des demographischen Wandels und der Klimakrise, gewinnen derartige Fragen weiter an Bedeutung.
Das Projekt zielt auf eine vergleichende sozio-empirische Exploration, moralphilosophische Klärung und öffentliche Deliberation von Ideen und Vorstellungen intergenerationeller Solidarität in Deutschland, Schweden und dem Vereinigten Königreich. Ausgehend von den Erfahrungen der Pandemie geht es dabei um die empirisch informierte, partizipative Entwicklung moralisch akzeptabler und sozial nachhaltiger Zukunftsvisionen für die Beziehungen zwischen Generationen sowohl auf nationaler als auch auf transnationaler Ebene.
Die Ergebnisse können damit nicht nur aus sozialwissenschaftlicher und moralphilosophischer Perspektive zu einem besseren Verständnis grundlegender moralischer Beziehungen zwischen den Generationen beitragen, sondern diese Einsichten ebenso unmittelbar für die Zukunft greifbar machen.
Die VolkswagenStiftung stellt für das Projekt über die Laufzeit von vier Jahren insgesamt rund 1,3 Millionen Euro bereit.
Methodisches Vorgehen
Das Projekt kombiniert empirische Sozialforschung, moralphilosophische Analyse und öffentliche Deliberation. In einer ersten explorativen Phase sollen mit einem Mixed-Methods-Ansatz die Bandbreite öffentlicher Deutungen und Bewertungen intergenerationeller Solidarität in der Pandemie in Deutschland, Schweden und dem Vereinigten Königreich erhellt und nationale Unterschiede beleuchtet werden. Dazu erfolgt eine Analyse politischer Stellungnahmen, ethischer Empfehlungen und medialer Diskurse in der Pandemie. Zudem werden jedem Land zehn Stakeholder-Interviews sowie acht Fokusgruppen in der breiteren Bevölkerung durchgeführt. Die sich daraus ergebenden Hypothesen werden sodann in einer umfassenden Online-Umfrage in jedem Land (n=3600/Land) untersucht. In einer zweiten evaluativen Phase analysieren wir aus ethischer Perspektive die Werte und Normen, die den moralischen und politischen Positionen und Haltungen zu intergenerationeller Solidarität zugrunde liegen. Ausgehend von einer systematisierenden Charakterisierung und Klassifizierung der unterschiedlichen Verständnisse intergenerationeller Solidarität nehmen wir eine detaillierte Analyse der erhobenen qualitativen und quantitativen sozio-empirischen Daten vor. In einer dritten partizipativen Phase werden die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen in einen öffentlichen deliberativen Prozesses eingespeist, der zur (Neu-)Aushandlung der moralischen Beziehungen zwischen den Generationen in Europa beitragen soll